Inneres Gleichgewicht

Unser inneres Gleichgewicht gerät manchesmal aufgrund kurzzeitiger Lebensumstände oder Anforderungen, die manchmal auch mal nicht vermeidbar sind, aus den Fugen. Und das eine oder andere Mal ist es vielleicht „nur“ eine Begeisterung für etwas oder ein starkes Engagement, das uns etwas Wesentliches übersehen lässt: nämlich dieses unser eigenes inneres Gleichgewicht zu wahren und zu schützen. Dieser Satz klingt so, als wäre ein Verständnis für das persönliche innere Gleichgewicht etwas Selbsverständliches. Leider ist das, aus meiner Sicht, aber überhaupt nicht so. Kürzlich fiel mir ein Interview einer bayerischen Spitzenpolitikerin in die Hände. Sie war gerade ein wenig ins Schlingern geraten und die Journalisten unterstellten ihr, dass sie nicht genügend Durchhaltevermögen für diesen Posten hätte. Diese Dame widersprach dem natürlich und begründete es unter anderem damit, dass sie ja 100 Stunden in der Woche arbeiten würde...100 Stunden ! Das Fatale an dieser Aussage war für mich, dass sie darauf stolz zu sein scheint.

Fatal deshalb, weil dieser Maßstab ja nicht nur dem persönlichen Irrsinn dieser Dame zuzuschreiben ist, sondern viel mehr inzwischen eher als Kulturgut gilt. Das heisst dann also, von Bedeutung ist in den Augen der Gesellschaft der, der seine innere Balance vollkommen ignoriert. Natürlich gibt es, wie schon gesagt, für jeden von uns immer wieder Zeiten und Phasen, in denen wir sehr beansprucht werden und wir um einen grossen zeitlichen und energetischen Einsatz nicht herum kommen. Das dürfte relativ normal sein. Hier spreche ich aber von dem Phänomen, die Ignoranz sich und seinen Bedürfnissen gegenüber als eine persönliche Stärke darzustellen und das auch noch als wichtges Lebenskonzept zu sehen. Verschärft wird dies noch dadurch, dass diese Menschen oft den Anspruch erheben, andere „führen“ zu wollen und ihnen dadurch meistens diesen ihren persönlichen blinden Fleck als das Maß der Dinge vorzulegen. Auf diese Art und Weise und bedingt durch viele weitere Faktoren, entsteht offenbar ein merkwürdiger Glaube an die Heldenhaftigkeit völliger körperlicher und geistiger Verausgabung. Der Begriff „Stress“ hat sich inzwischen zu so einer grossen Bedeutung hochgearbeitet, dass scheinbar nur der gesellschaftsfähig ist, dessen Person zumindest der Verdacht eines stressigen und zeitinensiven Berufslebens umweht. Ich bin gespannt, wie lange der medizinische Modebegriff des „ Burnouts“ braucht bis er als Synonym für „wichtig“ oder „bedeutungsvoll“ durchgeht...Und so sitze ich immer wieder mit Menschen zusammen, die zum Beispiel völlig fassungslos auf den Zusammenbruch ihrer Beziehung oder Ehe schauen. Dabei haben sie einfach nur übersehen, genau hinzuschauen, ihre Frau oder ihren Mann wahrzunehmen und klar zu sehen, wie denn das Leben zwischen ihnen und ihrem Partner oder ihrer Partnerin so verläuft. Dazu hätte es Zeit gebraucht. Muße sogar. Dazu wäre es nötig gewesen, mal innezuhalten und zu hören, zu fühlen, zu sehen... Irgendetwas muss zu kurz kommen, wenn wir vergessen Grenzen zu setzen, und auf unsere Balance zu achten. Entweder sind wir selbst es, oder unsere Kinder, oder unsere Partner, andere wichtige Menschen, oder vielleicht sogar wesentliche Teile unseres Lebens. Es gibt inzwischen genügend „Beratungsliteratur“ mit vielen Tipps dafür, wie eine innere Balance zu erreichen wäre. Diese Ratschläge sind gut gemeint und etliche davon sind auch sicher sehr sinnvoll. Aber ich bin überzeugt davon, dass es mehr als das braucht. Wenn wir die Idee der inneren Balance wirklich als etwas Wesentliches ernst nehmen würden, dann würde klar werden, dass es dazu ein waches Bewusstsein braucht und eine Wahrnehmung dessen-was-ist. Ich spreche da nicht von einem meist übertriebenen Anspruch nach spiritueller Erleuchtung (was natürlich ein wunderbarer Zustand wäre), sondern von einem viel schneller erreichbaren Grad der Verantwortung für sich selbst. Die Gesellschaft in der wir derzeit Leben fordert enorm viel an Einsatz von uns allen. Sie fordert auch sehr viel Geduld von uns und scheinbar auch, dass wir mit jeder Form von Druck einfach mal so umgehen können. Ich habe nicht die Illusion, dass sich das von selbst schnell mal im Gesamten ändern wird. Ich glaube aber sehr daran, dass jeder Einzelne in der Lage sein kann, sich die ernsthafte Frage zu stellen, was denn nun wirklich seine Prioritäten in diesem Leben sein sollen. Aber Vorsicht ! Diese Frage ist nicht ohne ! Sie kann sogar gefährlich werden, denn sie könnte dazu führen, dass Veränderungen nötig werden. Sie könnte uns zeigen, dass wir viele Dinge, die wir so erstrebenswert finden, vielleicht gar nicht mehr brauchen würden. Dafür wären andere Dinge , die wir kaum beachtet haben vielleicht plötzlich von grosser Bedeutung. Es braucht aus meiner Sicht einen klaren Blick oder besser ein klares Gehör oder auch eine klare, genaue Wahrnehmung dessen, was in mir vorgeht, wie es mir wirklich geht, um zu erfahren, was ich wirklich brauche und was ich mir wirklich wünsche in meinem Leben. Und dann, wenn ich das fühlen kann, dann bin ich viel mehr in der Lage, Grenzen zu setzen und mich und mein inneres in eine Balance zu bringen. Das wäre ein Schritt in eine Verantwortung für sich selbst. Das wäre ein Schritt dahin, einem bisher meist unbekannten, vielschichtigen und sehr interessanten Wesen zu begegnen ... nämlich sich selbst. Es mag ja sein, dass diese Fragen und solche Proritäten derzeit in der öffentlichen Lesart nicht so wirklich „schick“ und „anerkennenswert“ sind. Denn all das würde ja nicht dem verqueren „Leistungsbild“ entsprechen. Aber wir kämen uns damit sicher selbst um einige Schritte näher... Was ist da wohl von grösserer Bedeutung ?

Herzlichst

Jo Schmid